Lutscher gegen die böse Welt

Die Spice Girls tun es, die russischen Astronauten ebenso: Sie schlecken Lollis von Chupa Chups. Nun will der Konzern aus Barcelona den ganzen Globus verführen


Von Marc Lustenberger

Im Jahr 1958, als Brasilien zum ersten Mal Fussballweltmeister wurde, Madonna zur Welt kam und die Amerikaner den Mikrochip erfanden, revolutionierte ein Katalane - das Schlecken. Vor einem Regal wurde dem Zuckerbäcker Enric Bernat aus Barcelona plötzlich klar, dass die angebotenen süssen Mocken viel zu gross für Kindermünder waren. Ihm entging nicht, wie die Mütter ihre Kleinen «danach» einer unangenehmen Reinigung unterziehen mussten.
Also machte Bernat kleinere Zuckerkugeln und steckte sie vorerst auf eine Metallgabel, später auf ein Holzstäbchen und schliesslich auf einen Plastikstängel. Seine Erfindung nannte er Chupa Chups, das heisst so viel wie «schleck und saug». Von da an, so erzählt es uns zumindest die Firmenlegende, haben die süssen Stängel ihren Siegeszug rund um den Globus angetreten - wie der Fussball, Madonna und der Mikrochip. Mittlerweile verkauft das Unternehmen Chupa Chups seine Produkte in 170 der 207 Länder dieser Erde. Nicht auf der Firmenkarte sind Destinationen wie Nordkorea, Afghanistan oder Kuba. Aber selbst dorthin dürften einzelne Exemplare, gut versteckt in den Hosentaschen reisender Väter, den Weg gefunden haben.

Chili für die Mexikaner
Die Lutscher gibt es in über fünfzig verschiedenen Geschmacksrichtungen. Während Mitteleuropäer am liebsten Erdbeere mit Milchpulver schlecken, bevorzugen die Chinesen Teearomen, die Mexikaner stehen auf Chili, und Brasilianer saugen am liebs-ten an Mangostängeln. Im vergangenen Jahr hat die Firma Chupa Chups in ihren weltweit acht Fabriken mehr als vier Milliarden Bonbonbälle her-gestellt und damit einen Umsatz von 700 Millionen Franken erzielt. Zusammengereiht würden die Lutscher eine Kette bilden, die zwölfmal um den Äquator reicht.
Am Hauptsitz in Barcelona sticht die Botschaft des Unternehmens überall ins Auge. In den Grossraumbüros stehen bunte Sofas, farbige Styroporpuppen, überdimensionierte Lutscher. «Wir wollen Unterhaltung für den Mund bieten», sagt die Russin Tamara Pirojkova, die hier seit drei Jahren als Medienbeauftragte arbeitet. Chupa Chups erzielt 92 Prozent des Umsatzes im Ausland, und die 250 Mitarbeiter in Barcelona kommen aus zwanzig verschiedenen Ländern. Welche Art von Unterhaltung gemeint ist, erklärt Tamara dann vor einer Glasvitrine. Darin stehen Lutscher in allen Grössen, Farben und Verpackungen, aber auch Spielzeug wie ein Plastikhandy, ein Organizer oder eine mit Kaugummis gefüllte Uhr. «Die Kinder von heute kopieren alles von den Eltern. Sie laufen wie kleine Erwachsene herum», konstatiert die 26-jährige Tamara.
Das gilt umgekehrt allerdings genauso. Deshalb verkauft Chupa Chups seit zwei Jahren auch Kleider für erwachsene «Kinder». Enge T-Shirts mit Aufdrucken, Badebekleidung, Schuhe. Schon bald soll eine eigene Kosmetiklinie dazukommen. Auf allen Produkten ist das bekannte Blümchenlogo zu sehen. Ende der sechziger Jahre von Salvador Dalí für Chupa Chups entworfen, scheint es noch immer den Geschmack der Zeit zu treffen. Tamara zeigt sich auch begeistert von den farbigen Brillen, die neuerdings zum Sortiment gehören. «Als Kind wäre das mein Traum gewesen. In Moskau gab es nur diese traurigen Fassungen aus Horn.»
Im Büro eines der zahlreichen Produktionsteams sitzen Erwachsene, die von Beruf Kinder sind. Der trendige Träger eines Oberlippenbärtchens zappt sich Tag für Tag durch Trick-filme, studiert bunte Heftchen, ist auf der Suche nach kommenden Helden. Martialische Plastikkrieger, aber auch listige Fabelwesen stehen auf seinem Tisch. Er entscheidet, welche dieser Gestalten in den nächsten Monaten zusammen mit den Süssigkeiten ihren Weg in die Kinderzimmer finden.
Barcelona war schon immer schriller, gestylter und zeitgeistiger als das übrige Spanien. Es verwundert nicht, dass die Stängel von hier aus zu ihrem Siegeszug um die Welt angesetzt haben. Gelutscht wird im Übrigen nicht nur quer durch alle Kontinente, sondern auch quer durch alle Bevölkerungsschichten. Die Astronauten in der Raumstation Mir taten es in der Schwerelosigkeit des Alls, Popstars machen es am liebsten vor der Kamera, und ganz normale Leute scheinen sich ohne ihren Lieblings-lutscher im Mund zuweilen zu hintersinnen: «Ich erhalte regelmässig Briefe von Frauen aus den Vereinigten Staaten, die verzweifelt ein bestimmtes Aroma suchen, das sie im Ausland entdeckt haben», erzählt Tamara genüsslich.
Weltweit gibt es mehr als tausend Anbieter von Lollis, der Markt ist völlig zersplittert. Doch die Vormachtstellung von Chupa Chups mit einem Anteil von 35 Prozent stellt niemand in Frage. Seit der 34-jährige Belgier Xavier de Lame 1993 als Marken-manager eingestiegen ist, hat sich der Umsatz verfünffacht. Aus dem Kinderbonbon ist der trendige Lutscher geworden, der in jedes Handtäschchen passt. Er ist sweet, schafft für ein paar Minuten gute Laune und symbolisiert so etwas wie ein trotziges Aufbegehren gegen die böse Welt. «Wir wollen das Kind im Erwachsenen ansprechen», sagt de Lame und schiebt sorgsam seine goldene Brille auf der Nase zurecht.
Dabei halfen die Spice Girls mit, die sich ab 1997 mehrere Jahre mit den Lutschern im Mund ablichten liessen. Für Furore sorgte Chupa Chups auch in der Partyszene, wo 16-jährige Raverinnen gerne mit einem Lutscher im Mund posierten, weil sie so das amphetaminbedingte Kieferbeissen unterdrücken konnten. Andere Exponenten wie der Fussballtrainer Johan Cruyff gewöhnten sich mit Chupa Chups das Rauchen ab, was die Frage aufwirft, ob Nikotinlutscher nicht ein naheliegendes Zusatzgeschäft für den Zuckerkonzern wären. Das findet de Lame nun aber überhaupt nicht lustig; so wenig wie die Marihuanalutscher, die seit einiger Zeit in Schweizer Hanfläden verkauft werden: «Ich bitte Sie, wir vertreiben nur Produkte mit einem positiven Image.» Da passen die Lizenzverträge mit Pokémon, den Simpsons oder den Powerpuff Girls besser. Ein Flop war hingegen die blonde Barbie, die selbst mit einem attraktiven Schleckstängel im Mund dröge wirkte.
Für die Zukunft hat de Lame klare Ziele: «Wir wollen so schnell wie möglich einen Umsatz von einer Milliarde Euro erreichen. Im Moment haben wir eine kritische Grösse, sind ein zu appetitlicher Brocken für Übernahmen.» Um die Rendite zu steigern, verkauft die Firma ihr Produkt auch zusammen mit einer Plastikuhr oder einem Spielzeugtelefon. Nur, lange lassen sich die verwöhnten europäischen Kinder mit solchen Supplements nicht verführen. «Wir spüren in Europa die Konkurrenz durch die Handys. Die Kinder geben ihr gesamtes Taschengeld dafür aus.»
Aus diesem Grund expandiert Chupa Chups in die ganze Welt, betreibt Fabriken in Russland, China und Mexiko, plant Projekte in Brasilien und Indien. Aber auch in den Billigländern ist der Markt knochenhart. «Die Kinder sehen nur die Menge. Wenn eines eine Münze in der Tasche hat, kauft es lieber zehn minderwertige Bonbons als zwei Chupa Chups», beklagt sich de Lame. Es sei schwierig, die Kinder von der Qualität einer Marke zu überzeugen: «Aber wir arbeiten daran.»

Weltwoche, 18.11.2001